Von einem, der den Menschen etwas neues entdecken wollte

Irgendwo hat er ein bischen Pech gehabt. Nicht, daß die Welt Leute wie ihn nicht mehr nötig hätte. Es wird immer Dinge geben, die neu genannt werden und die erst gefunden werden könnten. Und es wird immer Leute geben, die der Meinung sind, daß sie auch entdeckt werden sollten. Zu den Leuten gehörte er auch. (Sogar zu jenen, die sich zu nichts anderem befähigt sahen.) Nur werden sie immer mehr.

Am Anfang standen die Wenigen, die das Neue suchten, wie vor einem großen unberührten und urtümlichen Wald. Sie brauchten nur vorzutreten und sich irgendeinen Baum auszusuchen. Ihn ganz und gar zu zerlegen, wird mehr Zeit in Anspruch genommen haben, als drei Generationen von ihrer Sorte zur Verfügung hatten. Und als die Zahl jenes Menschenschlages stieg, gelang es ihnen zwar, einige Schneisen in die Wildnis zu schlagen, aber niemals bestand jemals die Gefahr, einer könnte alles gesehen haben. Das ist auch heute noch so. Denn sollten sie wirklich soweit kommen, alle Bäume zerlegt zu haben, wer wüßte etwas über Büsche und Gräser zu sagen? Tatsächlich wuchs in der Zeit ihr Wissen und auch ihre Zahl. Und es kam der Tag, an dem der letzte große Baum des großen Urwaldes fiel. Aber statt Trauer oder Besorgnis zu zeigen, feierten die Herren der Schöpfung ein Freudenfest, endlich die gröberen Züge der Welt in den Griff bekommen zu haben. Und am nächsten Tag schon gingen sie fleißig wieder an die Arbeit. Wenig später dann wurde er geboren. Er wuchs am Rand des Waldes auf. Man lehrte ihn, die verschiedenen Werkzeuge gegen die Wildnis zu gebrauchen. Man führte ihn auch das eine oder andere Stück durch den Wald und brachte ihm bei, sich dort selbst zurechtzufinden. Und als er sich gerüstet fühlte, nun selbst ins Feld zu schreiten und daran zu arbeiten. Mußte er feststellen, daß er die Wiese kaum mehr sehen konnte. Denn so viele Menschen waren bereits dort, daß ihre über die Erde gebeugten Körper wie ein unbegrenzter Schildkrötenpanzer den Boden bedeckten. Er drängelte sich durch die Leiber auf der Suche nach irgendeinem Pflänzchen, irgendeinem Phänomen, an das noch kein Forscher seine Lupe gehalten, kein Arzt sein Skalpell gesetzt und das noch kein Dichter besungen hätte. Aber es war vergeblich. Wann immer er eines zu Gesicht bekam und rief: "Ich habe hier etwas neues entdeckt!" Kam es von irgendwoher wie ein Echo zurück: "Das habe ich schon vorgestern gehabt." Und er konnte die Alten in seiner Nähe wissend lächeln sehen, wenn sie dann murmelten: "Grünschnabel, ich kann mich an zehn bereits verstorbene erinnern, die das auch schon gesagt hatten." Und tatsächlich war kaum mehr als ein Stückchen Pflanze übriggeblieben. Beinahe ausgebleicht, entwurzelt, zerschnitten, verarbeitet.

So steht er mit vielen anderen ihrer Art nur noch am Rande und beobachtet das Treiben, um wenigstens einmal einen der doch im Prinzip unzähligen auszumachen, die gerade in diesem Augenblick etwas wirklich neues finden. Sekunde um Sekunde ein anderer. Doch vielleicht leben mehr als drei Generationen seiner Art, ohne jemals einen gesehen zu haben. Die Arbeit geht weiter.

Großburgwedel, 25.08.1995


© 1997 Jan Torben Weinkopf