Der Mann von tausend Teilen

Es war einmal ein Mann, der bestand aus vielen hundert Puzzleteilen. Er ergab ein schönes Bild. Er wirkte filigran und trotzdem von harmonischer Ordnung. Einige Leute beneideten ihn sogar ob seines kunstvollen Aussehens. Aber das alles hatte auch einen Nachteil: Er konnte sich nicht sehr gut bewegen. Sobald er versuchte, ein Glied zu krümmen oder den Blick zu wenden, stießen die Puzzleteile aneinander und saßen fest. Ein bischen Spielraum hatte er, denn auch die in einander verhakten Teile hatten ein wenig Spiel. Und er hatte gelernt, dies bis an die Grenze des Möglichen auszunutzen. Und er lebte damit eigentlich schon sein ganzes Leben lang sehr gut. Jede unvorsichtige oder heftigere Bewegung aber hätte die dann doch zu hoch gespannten Teile des Puzzles zum Auseinanderbersten bringen können. Sie wären zu allen Seiten davongeflogen, und was wäre geblieben? Dieser Gedanke beschäftigte ihn oft und meist bewegte er sich betont vorsichtig, um nicht unversehens in Versuchung zu geraten. Manchmal jedoch ging er bis an die ihm so wohlbekannte Grenze seiner Möglichkeit und verharrte lange dort und dachte nach. Denn für seine Gedanken hatte er nie eine Grenze ausmachen können, und dieser Zwiespalt faszinierte ihn.

Eines Tages traf er dann die wiewohl unausweichliche Entscheidung, daß zu wagen sei, was für ihn machbar war, und die eigene Existenz für die Erkenntnis zu riskieren, worin die Ursache für seine Unausgewogenheit zu finden sei. Er krümmte den rechten Zeigefinger, ganz langsam. Er krümmte ihn bis zu dem Punkt, wo seine Puzzleteile fest aufeinander drückten, und er krümmte ihn weiter. Zuerst war er erstaunt, wie weit er seine selbstgesetzte Grenze überschreiten konnte, ohne davon Schaden zu nehmen. Das war sehr interessant, es war aber nicht mehr, was er nun wissen wollte. Er brachte mehr Kraft auf als je zuvor und die Teile wölbten sich unter dem Druck. Und dann brach der Finger auseinander, die Puzzleteile fielen zu Boden. Er hatte sich verschiedentliches für diesen Moment ausgemalt. Aber jedwedes Gefühl blieb aus. Keine Schmerzen, kein Kribbeln, kein Pochen, keine Kälte oder Wärme, kein Druck. Es dauerte einen Augenblick, bis er den feinen Reiz bemerkte. Sein Finger schien immer noch da zu sein. Er konnte ihn frei und leicht bewegen. Es war, als ob er durch eine leichte Brise strich. Jetzt war keine Zeit mehr, sich zu verabschieden und er vermisste es auch nicht. Er ballte die Faust; und es blieb nur ein Unterarmstumpf zurück. Er winkelte den Arm an; der brach aus der Schulter und zersprang auf dem Boden. Er wandte den Blick auf seinen linken Arm, aber er tat es schon zu rasch. Die Augen platzten und die Teile glitten ihm über Wangen und Schultern. Da krümmte er sich zusammen, es gab ein kurzes prasselndes Geräusch und zurück blieb auf dem Boden ein ungeordneter Haufen Teile.

Später versuchte jemand, sie wieder zusammenzusetzen, aber es schien nichts zum anderen zu passen.

"Fliege", 03.07.1996


© 1997 Jan Torben Weinkopf